In Bull´s Eye

Ich spiele Malen nach Zahlen im Studierendenbüro der RWTH Aachen und weiß sofort, dass das Blödsinn ist, was ich hier tue. Germanistik. Und… Philosophie. Mit dem Dartpfeil. Ich hatte eigentlich Psychologie ankreuzen wollen, finde es aber jetzt nicht in der Aufregung. Philosophie klingt aber auch klug. Magister. Pah, der hat gesessen. Ich unterschreibe den blassgrünen Immatrikulationsantrag mit meiner Kinderschrift und muss mich zusammenreißen, nicht schon wieder in Tränen auszubrechen.

Ich weine viel in diesen Tagen, weine um die gerade vergangene Zeit, den Zivildienst, den Sinn, den ich darin spürte und um mich. Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll, wo sie hinführt, diese Tür, auf deren Schwelle ich wie festgenagelt stehe und mich aus meiner Kinderpelle häute.

Ich spüre eine Vehemenz, höre sie mich fragen, was es denn nun werde, wo es hingehe, was nun komme. Und stecke mir spuckenasse Finger in die Ohren, will nichts hören, nichts sehen, nicht so viel spüren. „Ich weiß es nicht“. An guten Tagen bringe ich das cool, überheblich rüber, an schlechten leise, mit dem Blick zum Fenster. Es gibt viele schlechte Tage seit April.

Die Wahrheit wäre so leicht, dass ich lachen muss, wenn ich sie abends in mein Kopfkissen raune: Ich will Sonderpädagogik studieren, sie ist es, die mein Herz berührt. Aber ich will kein Lehrer sein, will es besser machen als mein längst alibistudierender Bruder, wieder mal besser machen, will mich nicht verhaken, will keiner vermeintlichen Folgerichtigkeit nachgehen und krachend in einer Komplettfalschigkeit landen.

Und vor allem will ich Sportjournalist werden, in Kanada. Will das immer schon, habe es allen erzählt, seitdem ich 14 bin, habe mich in Ahornblattpullis gesehen, mit Eishockeyschlägern auf zugefrorenen Seen, habe dann immer gesunde rotwangige Brünette mit Mandelaugen geküsst, die französische Vornamen haben. Oder zumindest irgendwen geküsst, Geschichten geschrieben, mit Sprache jongliert und Bären in der Ferne entdeckt, entlang des weiten Highways. 

Ich glaube, es macht sogar ein Geräusch, wenn diese Kindertraumblase hier im Container, den sie behelfsmäßig für die Einschreibung aufgestellt haben, an die Zimmerwand stößt und eine Eierdelle kriegt. „Boing!“ vielleicht oder „paff!“.

Ich unterschreibe auch den zweiten Bogen, doppelte Ausführung, alles muss seine Ordnung haben. Aber richtig wird’s dadurch noch lange nicht. Wintersemester mit eisfreien Seen, der Puck klatscht ins brackige Wasser.

Auf dem Weg zurück sitze ich in Svens Auto, drehe das Fenster runter und lasse die aufdringliche Sommerluft rein, wieder zieht der Vorhang zu und mein Gedenke verknotet sich. Wir fahren über Land zurück. 

„Ha- llo! Was hast du nochmal genommen?“ Sven, ganz dumpf aus der Ferne. "Häh?!"

„Weiß nicht.“ Nicht mal gelogen. Ich nestele nach der Durchschrift, die in meinem Rucksack knittert, kriege sie nicht recht zu packen, lasse sie stecken. Dann schweigen wir.

Zuhause fragt erst niemand, wir drehen wie mattgraue Brummkreisel um uns selbst und stoßen nur manchmal zufällig aneinander, sie könnten mir auch nicht viel raten, wenn sie könnten.

„Durchhalten“,

„was Gescheites, Sicheres“,

„jetzt aber mal entscheiden“,

„in deinem Alter war ich längst“

und „hätte ich doch“.“

Ich will es nicht mehr hören.

„Germanistik und Philosophie, ihr habt doch keine Ahnung“, töne ich von meinem Fußbänkchen mit durchgedrückten Knien. Oder stelle mir das vor.

Die Wahrheit ist, also zumindest eine: Ich habe diese Kreuze gemacht, weil ich wirklich nicht drauf kam, verstrickt war im „Wasjetzt?“ der letzten Wochen. Und weil ich nicht schon wieder ohne Plan nach Hause kommen wollte, weil die 13 Monate Zivildienst doch genau dafür da sein sollten. Um mich auszurichten, aufzurichten. Und schließlich vielleicht auch, weil es klug klang, akademisch, frei. Zwei Kreuze also, multiple choice, eine Entscheidung. Nur glaube ich mir die nicht.

Sechs Monate später fahren mich meine Eltern nach Köln. Warten draußen im Wagen, als ich richtigere Kreuze mache. Geistigbehindertenpädagogik, Körperbehindertenpädagogik. Ich verlasse das zitronengelbe Seminargebäude auf dem alten Klostergelände und steige in das Auto meiner Eltern, das nach ihnen riecht und mit dem sie mich nach Hause bringen. 

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Veronika-Katharina (Mittwoch, 26 Februar 2020 23:14)

    Diese Geschichte, die ja eigentlich keine Geschichte ist, sondern das wahre Leben schildert, zeigt mir, dass man im Leben oft enorme Umwege gehen muss. Manchmal gibt es nur einen Umweg, manchmal aber auch mehrere Schlenker. Doch mit jeder Kehre und jeder Serpentine wächst und reift man.
    Und rückwärts blickend merkt man, dass alles genau so sein musste.