Unter Pappeln

Der alte Sportplatz liegt unter Pappeln. Dass das Pappeln sind, weiß ich aus dem Sachunterricht, der bei uns Heimatkunde heißt, wohl, weil meine Klassenlehrerin schon die Lehrerin meiner Mutter war. Fräulein Breuer. 

Ich mag Fräulein Breuer sehr, ihren faltigen Hals, ihr knochiges Dekolleté, den absonderlich krummen Ringfinger ihrer rechten Hand und auch ihren mehligen Geruch. Fräulein Breuer steht beim Kontrollieren meiner Hausaufgaben täglich eine Weile ganz nah hinter meinem Stuhl, beugt sich über mich und ich betrachte mit angehaltenem Atem ihren türkis kritzelnden Füller in meinem Heft. Das Sonnen-Amulett, das dabei immer vor meinem Gesicht baumelt, beruhigt mich sehr. Wir sind Fräulein Breuers letzter Jahrgang und ich komme jeden Tag gerne in die Schule.

Fräulein Breuer gibt uns natürlich keinen Sportunterricht, überhaupt ist sie nie auf dem alten Sportplatz, obwohl der direkt neben meiner Grundschule liegt. Ich schon. Ich bin täglich dort. Ich spiele Fußball mit den großen Jungs, was ich überhaupt nicht gut kann, aber umso mehr liebe. Ich klekse meine Hausaufgaben in einer Eile hin, damit ich schnell raus kann und wenn ich Mist gebaut habe, wähle ich immer eher Fernseh- als Draußenverbot.

Wir spielen dort bis tief in die Dunkelheit, die rostigen Flutlichtgiraffen, die auf der Aschenlaufbahn stehen, leuchten nie für uns. Wenn wir nichts mehr sehen können, wird das Spiel manchmal wild und wirklich zu Ende ist es oft erst, wenn mich meine Mutter am großen Eisentor abholen kommt, weil ich wieder mal die Zeit vergessen habe. Meine Mutter steht dann da und ruft meinen Namen, auf dem Weg nach Hause wird manchmal geschimpft, aber schlimm ist es nie.

Oft bin ich sehr schmutzig, wenn ich nach Hause komme, ich muss die schlammigen Fußballklamotten dann schon im Flur ausziehen und friere eine kleine Gänsehaut, wenn ich sie die marmorne Kellertreppe runter werfe. Meine Mutter trägt die Sachen dann in die Waschküche und wäscht sie, damit sie wieder sauber werden.

Die großen Jungs lassen mich mitspielen, weil sie mich gut ausdribbeln können und weil ich einen Ball habe. Meinem Bruder bin ich sicher manchmal peinlich dabei, aber nie zu sehr. Sicher mag er es auch, dass ich ihn bewundere mit seinen dünnen Beinen und seinem harten Schuss mit links.

Einmal hat mich Krolle ausgekitzelt im Mittelkreis, bis ich Pipi machen musste. Jeder hat´s gesehen, da habe ich mich geschämt und fand das ganz schlimm, am nächsten Tag stand ich aber wieder auf dem Platz, in frischen Hosen.

Wenn wir spielen sind wir andere, ich bin Tigana, der eigentlich Franzose ist oder Borowka, schneller laufen kann ich davon aber nicht.

Manni Eckers hat mir einmal den Ball feste an die Hand geschossen bei einer Ecke. Als die Schimpfe und die Prellungssalbe nicht halfen, sind wir am nächsten Morgen ins Krankenhaus, wo sie einen Handgelenksbruch feststellten, den ein holländischer Pfleger unter dem Röntgengerät richtete. Ohne Betäubung. Ich sah seine Skeletthände an meinem Sekeletthandgelenk, es machte ein Geräusch, tat sauweh und war wieder in Ordnung.

Acht Wochen musste ich einen Gips tragen, was doof war, aber auch super, weil sogar die Großen sich nach mir erkundigten und Manni Eckers sich bei mir entschuldigte, mir über den Kopf strich dabei, als ich draußen stand, am Spielfeldrand und den anderen zuschaute bei ihrem Spiel.

Der alte Sportplatz liegt zu Fuß nur ein paar Minuten von mir zu Hause. Ich laufe immer schon in kurzen Hosen rüber, trage Stutzen und manchmal sogar richtige Stollen, wenn es geregnet hat. Meine Schuhe klackern dann, ich habe den Ball feste unterm Arm, ihn am Fuß zu führen ist mir zu gefährlich, er könnte ja auf die Straße springen.

Ich laufe jeden Tag nach den Hausaufgaben zum alten Sportplatz unter den Pappeln, bin Tigana oder Borowka oder wer immer ich sein will.

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Kommentare: 1
  • #1

    Veronika-Katharina (Mittwoch, 02 Oktober 2019 12:51)

    Beim Lesen dieser herrlichen Geschichte fühle ich mich um 35 Jahre zurück versetzt, und ich spüre die
    Melancholie, die mich überfällt und die Tränen, die mir in die Augen steigen.
    Wie gerne hätte ich Fräulein Breuer diese Geschichte gezeigt, und sie hätte ihr stilles, bescheidenes Lächeln gelächelt, doch leider ist sie bereits vor 3 Jahren, 92jährig, von uns gegangen.
    Den Sportplatz unter Pappeln gibt es leider auch nicht mehr. Die Stadt hat ihn, aufgeteilt in viele Grundstücke, verkauft, und nun stehen dort Einfamilienhäuser, die auf mich wirken wie kleine Schuhkartons. Die Zeit, in der Generationen von Grundschülern dort die Bundesjugendspiele absolvierten und sich die Kinder unseres Wohngebietes nachmittags zum Fußball trafen, ist leider Geschichte.