Einhunderteins

Zwölfter August. Mein Opa wird heute 101.

Also würde es, er ist jetzt knapp sechs Jahre tot, und wäre sicher der Erste, der lautstark protestieren würde gegen diesen Einstieg. „100 werde ich“, würde er sagen und eine halsbrecherische Herleitung anbringen, die Lebensjahr und Geburtstag krude vermischen und beides tolldreist zu den je eigenen Gunsten kürzen würde.

Die letzten zwei Jahrzehnte seines Leben beharrte er nämlich darauf, einfach immer ein Jahr jünger zu sein, war ganz entschlossen in diesem und ungewohnt energisch. Mein Opa war oft ein Mensch, der im Stillen die Dinge ausmachte. Oder ertrug.

Ich war wohl in einer Weise ein Opakind, er ist und war eine wichtige Figur in meinem Leben. Das erstaunt mich gleichzeitig, unsere Verbindung war zwar früh intuitiv, aber nie übermäßig warm, das Band eng und klar, dabei aber weitestgehend unsichtbar. Schon früh fühlte ich mich ihm irgendwie nahe, involviert in seine Kriegsgeschichten, selbst in seine Herschmerzen, einmal so sehr, dass meine Eltern schon ganz unruhig wurden, blass wie ich war. Und ich? Ich fühlte innig mit.

Das blieb irgendwie so, auch wenn ich ihn sicher früh enttäuschte, als ich ihm relativ ungeschminkt mitteilte, seine Leidenschaft, die Gartenarbeit, nicht zu teilen. Da war ich keine neun und die extra für mich angeschaffte knallrote Blechschubkarre rostete von da an in der Garage vor sich hin. Meinem 11 Jahre jüngeren Cousin wurde später eine neue gekauft, die dieser wohl auch mehr zu schätzen wusste und unseren Opa begleitete, an dessen oft rissigen Lippen klebte bei allerlei botanischen Weisheiten, weitaus loyaler war in diesem Sinne und auch tatsächlich einen grünen Daumen entwickelte und einen Enthusiasmus, sein Gefährte wurde. Als mein Opa starb, war das für diesen jungen Mann ein schrecklicher Verlust, ich hingegen nahm es ruhig-traurig hin. Mein Opa war schließlich 96 geworden, hatte sein Leben gelebt.

Ich muss generell verstörend auf meinen Opa gewirkt haben, diesen so prinzipientreuen, auch engstirnigen Menschen. Unsere Werte klafften, wenn auch sicher aus derselben Basis kommend, weit auseinander, meine Welt hörte früh auf, eine zu sein, die er begriff. Er wollte das auch gar nicht, akzeptierte scheinbar unser gegenseitiges Unverständnis.

Moralpredigten gab es wenige und früh nicht mehr, heute weiß ich, dass seine Tochter, meine Mutter, sehr wohl immer wieder seine Vorhaltungen ertragen musste, meist über meine Erziehung, also ihre.

Zu mir aber war er milde, ließ viel Abstand zu, ohne sich abzuwenden oder gar die Tür zu schließen, das sowieso nie. Am Resopaltisch mit der cremefarbenen Wachstischdecke wäre wohl heute noch immer stets ein Platz, den ich einnehme könnte, eine Kelle Opasuppe würde immer für mich rausspringen oder ein Käseschwarzbrot, das mir so unerreicht lecker erscheint, ein Glas eiskalter Kakao aus der Blümchentasse obendrauf. Reden würden wir immer noch nicht viel, verstehen dennoch eine Menge.

Mein Opa war ein Betonkopf und schon, als ich mich für seine unsäglichen und zu jedem Anlass neu aufgelegten Politschlachten mit Helmut, einem altvorderen Rechtsaußen in seinem Bekanntenkreis schämte, bewunderte ich ihn dafür. Die Positionen meines Opas waren stets von dem aufrichtigen, brennenden Wunsch nach friedlichem und vor allem gerechtem Miteinander durchdrungen, wie ich viel zu spät kapierte. Wenn im Fernsehen Ungerechtigkeiten zu sehen waren, schaltete mein Opa stets um, bevor ihm die Tränen kommen konnten, waren die Benachteiligten Kinder, gelang ihm dies niemals rechtzeitig

Mein Opa ist der Mann, den ich am häufigsten hab weinen sehen, er fühlte sich in einer Weise in alles und jeden ein, die tief blicken ließ. In meinem Opa schlummerte wohl einiges an Abgrund. Zwei große Kriege steckten ihm in den Knochen, viele Monate von Entbehrung und Elend als Koch in der russischen Etappe und später in Gefangenschaft. Der Körper zudem geschunden von undenkbar harter Arbeit, als er Kirchen wiederaufbaute aus Ziegelsteinen zerbombter Häuser bis sein Kreuz schon beim Schuheschnüren schmerzte. Ein Arzt sagte meinem Opa Jahrzehnte später, die freischwebenden Gelenkteile seiner Wirbelsäule würden ihn auf dem Röntgenbild an die Milchstraße erinnern.

„Es gab einiges zu tun“, sagte mein Opa.

Später als Hausmeister stapelte er Milchkästen für Hauptschüler, schleppte ihnen Bänke, reparierte manchen Schaden. Wofür diese ihn ebenso liebten wie die Lehrer. Folglich großer Bahnhof zu seinem Abschied, mit allem Tamtam und ebenso viel Trauer.

„Ach, der gute Herr R.!“, so die Laudatoren.

„Ich habe die Arbeit gerne gemacht. Es war gute Arbeit", erwiderte mein Opa, unangenehm berührt und stolz wie Bolle über so viel Anerkennung.

Sicher waren da auch Kinosäle voller unlöschbarer Bilder in ihm. Von Tod und Untergang und Schuld, die er hermetisch in sich verschloss und jahrzehntelang in seine Unterwäsche schwitzte Nacht für Nacht, manchmal drei frische Feinripp-Hemden brauchte.

Geredet hat er nie darüber. Aber er war manchmal kurz davor.

Einmal, als ich frisch aus dem Urlaub im Baltikum kam und ihm begeistert von den Orten dort erzählte, verwandelte sich etwas in ihm. Nach regem Gesprächsbeginn, als wir uns lustvoll ins Wort fielen, er beharrlich die lettischen, estnischen, litauischen Städte bei ihren alten, ihren deutschen Namen nannte dabei, starrte er irgendwann glasig durch mich durch. Erschlagen müde wirkte er, Jahrhunderte alt. Mein Opa formte blubbernd Worte, klebrige Bläschen zwischen trocken-fahlen Lippen. Unverständlich seine Laute, aber ächzend, bis ihn endlich der Schlaf aus dem Erinnerungsfieber rettete. Gesprochen haben wir nie mehr über diesen Moment, ich habe nie gefragt.

Ein zweites Mal fiel die Deckung, kurz vor Schluss, die Medikamente hatten aus diesem standhaften Mann längst einen Schatten gemacht, der langsam rüberglitt, im Morphinnebel verdunstete, der sich auflöste in seinem Bett auf der Hospizstation. Die Birkenwald-Fototapete am Fußende hatte ihn auf die Reise geschickt, hinter jedem Stamm ein Iwan.

"Pass op, sie kommen."

Mein Opa war ein starker Mann, hielt eine Druckkammer in sich jahrzehntelang dicht, ich muss an diese stählernen Türen denken mit übergroßem Drehrad und dass Düsteres dahinter gesessen haben muss. Das Herz meines Opas war verwundet, seine wiederkehrenden Infarkte wohl der Preis für diese Anstrengung. Unentwegtes Arbeiten hielt sein Leben zusammen, mein Opa stand niemals still, war immer wach vor dem Morgengrauen, das Radio tönte bei allem, was er tat, es gab immer etwas zu tun. Er gurtete sich als steinalter Mann geblümte Kissen vor die zerschundenen Knie, um im Garten arbeiten zu können, den Boden zu bearbeiten, in die Erde zu fassen. Das blühende Leben gut bestellter Blumenrabatten war seine größte Freude, makellos und geordnet, so mochte er es.

Ordnung fand sich auch in seinem kleine roten Rechenheft, in das er jeden Einkauf, jede Ausgabe notierte, dabei den blauen Kulli immer etwas zu fest aufdrückte, dass dieser leicht schmierte und ebenmäßige Zahlenkolonnen malte, die die Kästchen genau ausfüllten. Mein Opa schrieb Posten für Posten sauber untereinander, addierte die Summen am Ende. Zuvor immer das meditative Ausräumen der verschossenen Einkaufstüten, die er danach faltete fürs nächste Mal, die Waren verstaute, das Fleisch zerlegte, in Tüten portioniert, beschriftet und eingefroren. "Gulasch 2Prt. 11/89, mit Soße"

Mein Opa war ein fast unwirklich sparsamer Mensch, der genau deshalb gut geben konnte. Er war Lagermeister und Hauswirtschaftler, ein Logistikgenie, bei dem nie etwas verkam, nie etwas fehlte. Mein Opa hat viel gelernt in Russland und davon erzählte er manchmal, wenn er die Gefrierbeutel mit kleinen Plastikstreifen verknotete, gegen den Gefrierbrand.

Das Wichtigste dabei war ihm aber wohl, eben nur "der Koch" gewesen zu sein, dass er nie jemandem etwas zuleide getan habe, dass wir ihm das glaubten, seinen Küchenabenteuern bezaubert lauschten. Seine Gabe, aus allem, wirklich allem eine köstliche Suppe zu machen, sollten wir aber als Geschenk dieser schweren Zeit sehen, in der ja nicht alles schlecht war, ihn dafür bewundern, was uns so leicht fiel, weil der Suppengenuss tatsächlich unerreicht ist, bis heute.

Ich merkte dann aber schon früh, dass da zwischen den klaffenden Leerstellen seiner Geschichten Fragen in mir aufkamen, noch schmerzhafter: Zweifel, ich mir sicher war, ihm bei einer Lüge zuzusehen, einer großen, bedeutsamen. Und gleichzeitig wünschte ich mir nichts mehr, als ihm diesen Gefallen zu tun. An den richtigen Stellen nachzufragen. An den richtigen zu schweigen, was mir gut gelang.

Heute ist es anders.  Heute ärgere ich mich, bedauere es , eben nicht gefragt zu haben, eine große Chance verpasst zu haben auf Begegnung, vielleicht Öffnung. Aus Schonung vielleicht an Vertuschungen mitgepinselt zu haben, kann ich mir nicht recht verzeihen, gleichzeitig aber empfinde ich dies als so verdient. 

Vielleicht aber ist es nochmal anders: Vielleicht wünsche ich mir vor allem, dass er sich das alles selbst geglaubt hat und irgendwann Frieden gefunden hat. Oder Ruhe, zumindest manchmal. Oder Vergessen.

Das wünscht sich wohl vor allem das Opakind in mir.

Ja, das tut es. Von ganzem Herzen.  

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Kommentare: 1
  • #1

    Veronika Katharina (Freitag, 16 November 2018 01:50)

    Zum xten Mal habe ich die Geschichte über Opa in mich aufgesogen, mal lächelnd, wenn du seine
    liebenswerten Eigenheiten beschreibst, mal in Tränen aufgelöst über nicht genutzte Chancen, die Fragen zu stellen, die ich nun nie mehr stellen kann.
    Eines glaube ich ganz bestimmt, dass er stolz und verlegen auf deinen Bericht reagiert hätte.