Vorm Paradies

Ich sitze auf den sonnengewärmten Kirchenstufen und sehe der Masse beim Abfließen zu.

Es ist Markt. Ein Tanztheater. Ein Wimmelbild.

Aus der Mitte löst es sich auf, wird irgendwo wieder vereinzelt, zerfällt in Momente, Augenblicke, Geschichten.

Ich schalte den Ton auf lautlos und drücke den Auslöser. Immer wieder.

Fünf Männer stehen im Halbkreis. In Freizeituniform, türkis scheint wieder in zu sein. Sie lachen verhalten, es könnte ja noch was Witziges kommen. Oder was Bedeutsames. Der Blick die Straße runter. Endlich kommt der fehlende Mann. Die sechs verwandeln sich in eine Gruppe und verschwinden im Gedränge.

Ein alter Mann wechselt seine Brille. Offenbar keine Gleitsicht. Schlohweißes Haar unter blauem Barett, im Ganzen verschlissen. Erdig, edel, entschlossen. Er hat noch einiges vor.

Ein Pärchen. Sie zwei Köpfe kleiner als er. Er küsst ihr unentwegt von oben auf den Scheitel und ich frage mich, wen das mehr stört. Vielleicht mich.

Zwei Polizeibeamte mittleren Alters falten ihre Hände, wohl einer neuen Deeskalationsformel folgend. Ihre Knöchel werden weiß dabei, hinter der Sonnenbrille sind Krähenfüße zu erahnen und Überstunden. Sie arbeiten zu viel, sprechen zu wenig. Einer schaut freundlich zu mir rüber.

Ein junger Typ fährt vier leere Kartons mit einer Sackkarre ins Getümmel. Vor ihm bildet sich eine Gasse, er schaut nur auf seine Turnschuhspitzen beim eiligen Rangieren. Die Leute machen ihm Platz, obwohl er gar keinen Nachschub bringt.

Mein Magen knurrt, eher aus Lust als aus Hunger. Die schon so kräftige Sonne hat den Rosinenstriezel in meiner Tasche weich werden lassen. Schokoladenaugen glotzen mich durch das Fettpapier an. Ich mampfe mit verschmierten Fingern und freue mich über so viel Kleinkindlichkeit. Der Striezel ist eklig süß. Ich schlinge ihn hastig runter, wische meine Finger in der Hosentasche ab. Und gucke.

Eine Frau im dicken Baumwollhemd und steifer Schürze. Sie hat sich offensichtlich heute Morgen für das wärmende Outfit entschieden. Jetzt verflucht sie die Sonne. Oder sich.

Ein stolzer Bräutigam. Im Anzug, seine schwarzen Haare streng nach hinten gegelt, den Blick geradeaus mit aufgerichtetem Kinn. Er hat keine Ahnung, was er hier soll. Es ist ihm aber auch wunderbar egal.

Die Touristin mit der Dreiviertelhose torkelt, eine klobige Spiegelreflexkamera baumelt um ihren Hals und bringt sie aus der Balance. Sie muss sich auf ein schon wieder leeres Aluregal an einem Stand stützen und erstmal atmen. Die vielen Bilder des Tages lassen sie schwindeln. Nach einer Weile rappelt sie sich wieder auf und sucht sich einen ruhigeren Ort. Nichts wie weg.

Eine große Frau mit dunkler Ponyfrisur, Feinstrumpfhose und Minikleid. Hochschwanger. Sie hat schon dieses Watscheln, das von hinten so bezaubernd aussieht. Sie watschelt also auf ihren Chuck´s durch den Frühsommer. Ich beneide sie nicht.

Längst sitze ich nicht mehr alleine auf den Stufen. Direkt nebenan ein Paar Wandersocken in Sandalen, wir berühren uns fast. Er liest in einem Fremdenführer, ich versuche vergeblich, die Sprache zu erraten. Wir lächeln uns knapp zu. Ein Windstoß bringt kurze Erleichterung. Ich blicke in den Himmel, der wolkenlos ist. Und wieder in den Trubel. Ich hatte mir vorgenommen, das hier nur fünf Minuten zu tun, die sind längst rum. Ein bisschen noch.

Ein Marktbeschicker im karierten Hemd klappt sein Alugestell zusammen. Geschäftsmäßiger Blick, geübte Handgriffe, müder Körper. Auf einer kahlen Stelle auf seinem Kopf ist der grellrote Rand eines frischen Sonnenbrandes zu erkennen.

Vier junge Frauen im Kreis, Mädchen eher noch, sie lachen gelöst, eine ganz die großmäulige Wortführerin, den anderen gefällt das. Mir auch. Sie grinsen in die Sonne und genießen. Gleich wird’s noch einen Milchkaffee geben. Ihre Vorfreude ist ansteckend.

Der mit der Sackkarre kommt zurück. Die Kisten sind voll, Marktwirtschaft verkehrt, das verstehe wer will…

Eine elegante Frau schiebt selbstvergessen einen Kinderwagen auf der Stelle hin und her. Ihr Sohn sitzt aufrecht und glotzt neugierig den Menschen hinterher. Speckige Ärmchen lugen unter seinem geringelten T- Shirt hervor. Eine Windböe erfasst die Frau, das tiefblaue Kleid flattert, sie bleibt vollkommen ruhig. Beide lächeln in unterschiedliche Richtungen.

Ein alter Mann schleift zahlreiche leere Blecheimer in einem gelben Sack über das Kopfsteinpflaster. Es ist heute viel Apfelmus gegessen worden. Reibekuchenwetter. Jetzt sind alle satt.

Ich schalte den Ton wieder ein. Getümmel, Gelärme, Gemurmel.  Sofort drücke ich die Taste noch einmal.

Mute. Gut. Ich setze meine Sonnenbrille auf. 

Es wird Zeit für mich.

Ich verlasse den Marktplatz über den abschüssigen Weg, der mittlerweile im Schatten liegt.

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