2017- was für´s Auge

Eine Bekannte von mir hat vor einigen Jahren die Tradition initiiert, die besten Filme (manchmal auch Theaterabende) des vergangenen Jahres zu küren. M.E. eine wunderbare Idee,  weil Anlass, noch einmal inne zu halten und in einer Bewusstheit das letzte Kunst- Jahr vor dem inneren Auge Revue passieren zu lassen. Ich markiere seither in meinem Kalender jeden dieser Abende mit dem Textmarker und bin baff erstaunt, wie viele Striche ich im darauf folgenden Januar entdecke. 

Ich empfand mein 2017 diesbezüglich als außergewöhnlich großartig und vielseitig, habe entweder zu wenig Anspruch, zu viel Zeit oder bin einfach ziemlich durchlässig geworden in jüngster Vergangenheit. Oder, vielleicht ganz anders: Ich habe einfach. Glück.

Sei es, wie es sei, rausgekommen sind dabei diesmal direkt drei Stockerl.

(Ein eigenes für den Dokumentarfilm, den ich gerade so sehr schätze und der mich auf eine besondere Art berührt, weil er die vielleicht besten Geschichten erzählen kann.)

Dokumentarfilm:

1. Happy

Ich weiß nicht, obs Lokakolorit ist (die Filmemacherin kommt aus der Nordeifel und ich nur knapp dran vorbei), die Tatsache, dass die sehr aparte Frau auf der Premiere zugegen war, oder das Thema Vaterliebe an und für sich: Dieser kleine, feine Film über ihren Vater und seine neue, thailändische Frau hat mein Herz stürmisch gekriegt. Sie hat sich irgendwann entschieden, selbst vor der Kamera aufzutauchen und sich selbst  quasi zur Indexperson für das komplexe Thema zu machen, stellt Scham ("natürlich" ist die Stiefmutter jünger als sie selber, Klischee olé), Verzweiflung, Skepsis, aber eben auch Liebe und Neugierde so ehrlich und nah dar und aus, dass es ein Fest ist. Der hochreflektierte Vater und sein berührendes Maß an Aufrichtigkeit tun ihr Übriges, er war auch bei der Premiere dabei, wie auch die Stiefmutter, was das Ganze natürlich abrundete. Ein mutiger, liebevoller Film. Und vor allem schon ihr zweiter über ihre Eltern: Ihre Mutter bekam vor einigen Jagen "Die mit dem Bauch tanzen"  auf den -hüstel- Leib geschnitten. Auch eine echte Perle.

 

2. Weit.

Wäre rein emotional die Nummer 1, weils ein wunderbarer Film über Fernweh und, noch viel tiefer, über das Vertrauen ins Vertrauen ist. Aber mir ist da ein halbes Gramm zu viel Instagram- Coolness drin, dafür fehlt es es ein wenig an wirklicher Narration, vielleicht auch an unprätentiösen Momenten des Scheiterns oder der Normalität, die diese Reise vermutlich auch hervorgebracht hat und die diese ganz sicher bereichert haben. Immer noch ein toller, hochsehnsuchtsvoller Streifen, aber eben auch "nur" Nummer 2.

 

3. Berlin Rebel High School

Ein Film über die "Schule für Erwachsenenbildung" in Berlin, die einzige basisdemokratische Schule Deutschlands, hier sind also die Schüler die Chefs. Der Regisseur ist selbst Absolvent dort und folglich ist das eine Lobeshymne an etwas, was ihn sehr geprägt hat, was total zu spüren ist. Das Thema Geld wird einen Tick zu zentral verhandelt (obwohl es echt super wichtig ist, dass die Lehrer dort einen Hungerlohn verdienen), ansonsten ein runder Film mit einer sensationellen, fast nach "scripted reality" (ist es nicht, hat der Regissuer auf der Premiere glaubwürdig versichert) anmutenden Auswahl von Protagonisten. Ein inspirierender Beitrag zur Bildungsdebatte. Toller Film!


Spielfilm:

1. Manchester by the sea

Ein Meisterwerk: Erzähltempo, Erzähltemperatur, Story, Schauspieler, Musik. Großartig. Und diese Farben! Eine ästhetische Augenweide. Wunderbare Bilder einer anrührenden Trostlosigkeit, dazu eine wirklich berührende Geschichte. Kein Spoiler. Nur so viel: Angucken!

 

2. Paterson: 

Den habe ich gerade mal sechs! Tage später gesehen und nur knapp auf den 2. Platz verwiesen. Wer sich für Schreiben im Allgemeinen und Lyrik im Besonderen interessiert und bei dem Film nicht vom Seufzen ins Schneuzen wechselt, der muss ein anderes Schreiben meinen als ich. Eine Verneigung vor der Kraft der Worte, gefilmt, wie es Jim Jarmusch halt kann: So unprätentiös, dass es schon wieder poetisch ist. Wunderschön!

 

3. Die andere Seite der Hoffnung:

Aki Kaurismäki ist ein Meister. Ich bin da sicherlich biographisch recht voreingenommen, aber die "Formsprache" vom alten Finnen ist unfassbar, unvergleichlich und ich bin fast hintenüber gekippt, als sie dann auch noch bei sowas politisch brisantem wie der Flüchtlingsdebatte funktioniert. Kaurismäki macht Märchen, in denen die mit protzigen ollen Amischlitten durch die Gegend fahren und Wählscheibentelefone benutzen und doch hat er uns heute noch was zu sagen. 

 

Wenn ich mir dann überlege, dass ich einen Golden Globe (Aus dem Nichts), eine goldene Palme (Körper und Geist) und einen Oscar (Moonlight) nicht mal auf die Liste genommen habe und die allesamt auch großartige Filme waren, dann ahne ich, dass 2018 diesbezüglich gerne genau so weiter gehen kann.

 

 

Theater:

1. Borderline Prozession (Theater Dortmund)

Ich habs jetzt einige Male versucht, diesen Theaterabend mit Worten zu beschreiben, es ist rührend, wie knapp vorbei das immer ist. Vielleicht so viel: Eine zweiteilige Bühne, ein Riesenpuppenhaus mit vielen Kammern, das Publikum sitzt reihum, darf, muss zwischendrin zweimal die PERSPEKTIVE WECHSELN. Ein Kamerakram, der die Bühne unentwegt umrundet und beste Kinobilder schießt  (die live auf Riesenleinwände projiziert werden) und in den Räumen Meditationen zu Verbinden und Trennen, zum Dazugehören und Ausstoßen, zum Sterben, zum Leben, super krass, zum Teil, verstörend, berührend. Eingebettet in unfassbar gute Musik, gerahmt von schlauem Textgewitter. Dreieinhalb Stunden voll aufs Maul. Derart größenwahnsinniges Theater, dass es schon wieder elementar ist. Ich bin selten so gerockt worden im Theater und hatte wohl nie so lange an meiner Verstörung zu knabbern. Genau das muss Theater m.E.: Verstören, Unterschiede bilden. Großartig, wenns dabei auch noch ästhetisch aufn Punkt ist! Einer meiner größten Theaterabende überhaupt.

 

2. Mensch Münster Mensch (Der Kleine Bühnenboden Münster)

Ja, hier habe ich selbst eine Geschichte erzählt, ich bin daher sicher nullkommanull objektiv. Dennoch bin ich sicher: Sechs sehr wichtige Abende. Das Konzept so einfach: Echte Münsteraner erzählen echten Münsteranern echte Münsteranergeschichten. Ohne viel Dramaturgie- Schnickschnack, ohne bearbeiteten Text, live, echt, pur. Ich bin vollkommen überzeugt: Wenn wir uns unsere Geschichten wieder viel häufiger erzählen, uns vor allem zuhören dabei, das Ganze optimalerweise vorurteilsfrei, dann wird das unsere Welt besser machen. Wunderbar!

 

3. Monday. Watch Out For The Right (Pumpenhaus Münster) 

Quasi das exakte Gegenteil zur Borderline- Prozession. Kleinenwahnsinnig. Sagt man nur nicht. Das Setting so einfach wie brillant: Eine portugiesische Künstlerin kämpft gegen einen spanischen Schriftsteller und der wehrt sich mit seinem Gedicht. Es geht um Leben und Lieben, um Hoffen und Bangen. Sie kämpfen, tanzen, umarmen, schweigen, liegen. 12 Runden. Das Ganze so pur, dass ich einfach nur still da saß und dachte: Ja. Stimmt.

 

Ein tolles Kunst- Jahr, beim Blick zurück stelle ich fest: Ich gebe dem Erzählen viel Raum in meinem Leben. Markiere mir die tollen Geschichten im Kalender. Mit Textmarker. Bewahre, sammle sie.

Und das ist gut so.

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