Dartitis

Manchmal schrecke ich auf, beobachte mich beim Tun und weiß überhaupt nicht, wie ich hier nochmal gelandet bin. Das ist schon skurril genug an der roten Ampel sechsundzwanzig Kilometer von zu Hause entfernt. Aber das hier ist eine andere Liga: Ich erwische mich am Handy mit einem YouTube- Video von einem sehr jungen niederländischen Dartspieler, der ganz offensichtlich ein großes Problem hat hat: Er kann nicht werfen. 

Ich finde Dart normalerweise genauso  bescheuert wie YouTube- Videos aus der Kätzchenliga, beides ist für mich unästhetisch und vor allem überflüssig. Aber das hier kriegt mich, ich leide mit Berry Van Peer, so heißt der Junge. Denn natürlich kann der von Haus aus diese Pfeile auf diese Scheiben werfen, wohl auch ziemlich gut, er ist Profi und das Video unzweifelhaft in irgendeiner bumsvollen britischen Boxbude entstanden.

Nein, Berry gelingt es gerade partout nicht, den Pfeil loszulassen, in seinem Gesicht die schrille Verzweiflung, wenn er, den kleinen Dart zwischen den Fingern reibend, sekundenlang albern anmutende Zielbewegungen macht, immer wieder absetzt, einem unsichtbaren Gegner droht, geheime Botschaften in die Luft schreibt oder lästige Tierchen vertreibt dabei. Seine erstaunten Augen röten sich, der Mund kann die Abscheu, die Ohnmacht und die Scham nicht mehr für sich behalten. Irgendwann wirft er, eher jahrmarktartig, ungezielt, mehr ein Schmeißen. Das spöttisch anmutende Grinsen beim Rausrupfen der desaströs erfolglosen Pfeile glaubt ihm da längst keiner mehr, er wirkt von einem Moment auf den nächsten vollkommen erschöpft und uralt. Berry leidet wie ein Hund und ich mit ihm.

Ich ahne, was da passiert, ahne, dass er das hier echt echt gut machen will, alles wie sicher millionenfach geübt, durchdacht, automatisiert. Und irgendetwas klappt da nicht. „Es“ will ihm nicht gelingen und er landet in einem scheinbar undurchbrechbaren Kreislauf, gefangen zwischen seinen eigenen Abwägungen, zu Mensch gewordene Ambivalenz. Exakt an der Schwelle, an der er die Kontrolle abgeben müsste, den Pfeil der Luft übergeben, an der die Dinge dann ihren Gang gehen.

Aber Berry kann nicht loslassen.

Ich kenne das nur zu gut und die Heftigkeit und Stärke dieses Bildes trifft mich mit großer, mit heilsamer Wucht. Der Berry in mir will auch immer am liebsten vorher wissen, was hinten dabei rauskommt, will bestmöglich treffen, alles gut machen und den Pfeil am liebsten in die kleinen Zielfenster stecken statt auf Newton zu vertrauen, das Universum, oder mich selbst. Aber so geht das eben nicht. Das ist im Dart gegen die Regeln und im Leben… einfach nicht vorgesehen. Pfeile fliegen, Dinge geschehen, Menschen reagieren, die Erkenntnis, die volle Kontrolle nie, nie, nie zu haben, sickert bei mir bestenfalls tröpfchenweise, ist mir trotz unzähliger Lektionen nach wie vor so schwer erträglich.

Was mich in dem Video neben dem Leid berührt, sind Gegner, Publikum und der Mann, der die Punkte auf die Tafel schreibt. In diesem überdrehten Affenstall schwingt klarste Empathie, alle leiden mit, verstehen, kennen das Drama, das sich da abspielt, fürchten sich sicher davor. Und öffnen sich für den Schmerz, puschen in grölend bei jedem Pfeil (das Publikum), warten geduldig (der Gegner) oder streichen dem schnell in Tränen aufgelöstem Jungen harschherzlich über den Rücken (der glatzköpfige Punktemann mit den schlimmen Unterarmtattoos). Sie stützen ihn, indem sie bewusst mitbekommen und in der Situation bleiben. Sie unterbrechen den Stotterer nicht, schauen dem LRS- ler nicht auf den zitternden Kreidestummel, sondern geben Zeit. Und Mitgefühl. Und Berry steht das durch, beendet dieses Spiel, verliert haushoch. Gewinnt.

Dartitis ist wohl unbesehen ihres bescheuerten Namens eine offiziell anerkannte psychosomatische Störung und das Weihwasser für den Dartteufel, da therapeutisch wohl ein vollkommenes Umstellen des Spiels angesagt ist, will man jemals wieder in derselben Liga unterwegs sein wie zuvor. Die Spieler lernen dann wohl komplett neue Handlungsabläufe, Bewegungsroutinen, werden in einer Weise jemand anderes.

Berry übersteht diese Krise, ich finde ein Video, das ihn einige Zeit später zeigt, er bekommt einen Rückfall, es hakt schon wieder in seiner Wurfbewegung. Aber Berry löst sich, zielt den ersten Dart nicht mehr, sondern lässt ihn sofort nach dem Antreten an der Wurflinie los. Lässt ihn gehen, denkt nicht nach, wirft. Erstaunlicherweise trifft er ziemlich solide mit diesem ersten Pfeil, vor allem aber Pfeil zwei und drei befreit er vollends durch diese Entscheidung. Berry strebt nicht nach Kontrolle, nimmt das Gehampel seines Unterarms und das mittelmäßige Wurfergebnis an. Er tut es einfach.

Ich trug bis vor Kurzem mal wieder eine Entscheidung lange mit mir rum, unendlich lange, diesmal. Habe Pros und Contras mit Abers verquirlt und so lange auf Horrorszenarien gegossen, bis keinerlei Optionen mehr erkennbar waren. Ich habe über Auswirkungen spekuliert, bin wochenlang um Briefkästen gelaufen und habe mich entschieden im Nicht- Entscheiden verstrickt, dabei kurz vergessen, dass es das gar nicht geben kann. Ich habe unendlich Zeit mit vergossener Milch und erfundenen Zukünften verbracht und mich und meine Energie daran so festgebunden, dass ich fast erstarrte. Und dann habe ich Berry gesehen und kapiert, was er da tut. Und ich habe gehandelt, den Pfeil losgelassen.

Ich habe die „Triple 20“ dabei verfehlt, ziemlich deutlich verfehlt. Aber ich stehe jetzt da mit wieder leeren Händen, bin bewegungsfrei und begreife, dass der Mann mit der Kreide nur das aufschreibt, was wirklich in der Scheibe steckt...

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