Ein einziger Tag (im Gedenken an K.)

Und dann plötzlich erzählt er. Stoppt gar nicht mehr, ein Strom von Bildern scheint aus ihm heraus zu fließen, grausamen Bildern. Er ist dabei nicht atemlos, eher klar, konzentriert und wir verstehen sofort, dass das hier etwas Wichtiges ist, ein Vermächtnis vielleicht. Sein Vermächtnis. Und wir hören einfach zu, hier auf diesem kleinen Ruhpottfriedhof, dieser Letzte- Ruheinsel im Siedlungseinerlei mit ihrer symmetrischen Ordnung, die rechte Winkel in graue Friedhofsasche fräst.

K. sitzt da ganz ruhig in seinem hochgelegten Elektromobil, mit dem er so wunderbar aufgekratzt durch die Fußgängerzonen rasen kann, seine beige Baseballkappe tief in das steinalte, hellwache Gesicht gezogen und die Fäuste um die Griffe gelegt und nur die weißen Knöchel verraten, dass das auch für ihn aufregend ist, auch nach all den Jahren.

Er ist 70 Jahre jünger in seiner Geschichte, und läuft und läuft und läuft. Immer die Straße entlang, auf der sich Wagen an Wagen reiht, abgerissene Menschen nur noch wegwollen, das Nötigste an sich gerafft, längst nicht mehr wissend, was das eigentlich sein soll außer das Ganze hier zu überleben, was bei Weitem nicht jedem gelingt. Körper, Schreie, Taumeln. Nichts in einer Ordnung.

Flugzeuge überfliegen immer wieder den Treck und K. wirft sich in den frühlingsweichen Acker, längst geübt in diesem Reflex. In einem der LKW richtet ein Mann seine Pistole auf einen zweiten, schreit ihn an, den Lauf dem Anderen ins Gesicht gedrückt. Es geht wohl um den Weg, wer hier gerade für welche Sache, welche Richtung sterben will, weiß K. nicht, es geht ihn nichts an. Er findet Stiefel, die noch in Füßen stecken im Straßengraben, seine sind längst abgelaufen, also nimmt er sie und schüttelt noch heute den Kopf über diese Selbstverständlichkeit, wenn auch kaum merkbar, oder vielleicht auch über die Erinnerung, dass er damals noch zwei brauchte, wo längst einer reicht.

K. ist auf dem Weg in seinen Heimatort tief im Osten, nur weg von der Front, ein Hauch von Desertion liegt in der Luft, aber das scheint keine Rolle zu spielen für das Wesentliche, es zieht ihn magnetisch dorthin. Von einem Hügel herab sieht er seine Stadt liegen, sicher qualmt es überall. In nicht allzu großer Ferne rollt ein Panzer durch die Straßen, zieht eine Gestalt hinter sich her, die mit einem Seil hinten angebunden ist. Die letzten Ausläufer von Strafe und Vergeltung klatschen hier auf das Kopfsteinpflaster. K. begreift sofort, dass hier nichts mehr jemals wieder Heimat sein kann, er weiter muss, viel weiter. Und er wendet sich ab. Und läuft.

Jetzt schaut K. uns an, mit müden, doch aufmerksamen Augen, hatte eine Weile durch uns hindurchgesehen. Dieser Opablick zwischen Verschmitztheit und Weisheit, kurz und klar und tief.  Da ist etwas Leichtes, fast Heiteres in ihm, hier, keine zehn Meter von dem Grab seiner Frau, der er wohl jeder Zeit folgen könnte. Er scheint mir frei in diesem Moment.  

„Ach ja, lange her“, sagt er, plötzlich lapidar, jemand scheint den Sender verstellt zu haben.

Wir nehmen diesen Moment, diese Erschütterung mit, begreifen ihn, ohne zu verstehen, sind noch eine ganze Weile aufgewühlt von so viel Intimität und der Ahnung der Abgründe, die in all diesen Leben wohl noch lauern müssen. K. hat uns einen einzigen Tag aus seinem Leben geschildert, als wir das begreifen, sind wir voller Trauer und Ohnmacht. Vor allem aber sind wir dankbar für dieses Geschenk, dass der Nebel sich für eine kurze Weile lichtete und wir hineinschauen durften. Gemeinsam.

Mit ihm zusammen.  

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Kommentare: 1
  • #1

    Veronika-Katharina (Freitag, 08 Dezember 2017 02:21)

    Ach wie sich die Erzählungen der Väter bzw. Großväter gleichen. Da blitzen für einen
    kurzen Moment Erinnerungen auf, die uns, die nachfolgenden Generationen, in den
    Abgrund schauen lassen.